ZURÜCK

































































































ZUM SEITENANFANG


ZURÜCK ZU "GESCHICHTEN"
DAS DING 

Die beiden Buben fanden das Ding im Wald eher zufällig und an einer Stelle, an der sie noch nie vorbeigekommen waren. Es war der ausgedehnteste all ihrer bisherigen Streifzüge und sie hatten gerade beschlossen, umzukehren, als der Blick des Kleinen auf etwas fiel und daran hängenblieb.

Es war nicht groß und nicht klein, es hatte keine bestimmte Farbe, es war nicht braun oder grün oder blau oder dunkelrosa. Auf eigenartige Weise hatte es überhaupt keine Farbe. Es war nicht Holz und nicht Stein und nicht Erde, auch nicht Metall oder Glas oder Plastik, und es war umwachsen von etwas, das nicht Gras und nicht Moos oder Pilz oder Flechten war. Wo das Sonnenlicht darauf fiel, wurde es von dem Ding nicht aufgefangen, weder abgestoßen noch verschluckt, wo das Sonnenlicht darauf fiel, war es plötzlich nicht mehr vorhanden.

Es hatte die Form eines Tieres oder eines Menschen oder beides oder keins von beiden, aber gleichzeitig auch die Form eines Sterns, der vom Himmel gefallen war, und dann wieder war es durchsichtig wie eine Seifenblase und so dicht, daß kein Blick es durchdringen konnte.

Als sie es berührten, war es ganz leicht und ließ sich dennoch nicht von der Stelle bewegen. Es war nicht  kalt und nicht heiß, und nicht weich und nicht hart, aber es fühlte sich so unendlich traurig und leer an, daß die beiden Freunde zurückwichen und einander nicht ansehen konnten, weil ihnen Tränen die Augen füllten und ein Grauen die Kehle zuschnürte, das Grauen der vollkommenen Leere, die durch ihre Fingerspitzen bis in ihre Herzen schlich und die sie bis dahin noch nicht gekannt hatten.

"Laß uns gehen," flüsterte der Große.

"Wie schade," sagte der Kleine. "Ich glaube, es ist tot."

Und dann begann er untröstlich zu weinen und weinte den ganzen Heimweg lang. Aber am nächsten Morgen stand er bei Sonnenaufgang auf und ging wieder in den Wald, zu dem Ding, allein.

Nichtwesen trieb im Nichts, im Nirgendwo, im Nirgendwann und es schien, als triebe es hier schon immer. Als hätte es den Beginn des Raums und der Zeit  versäumt, während es hier trieb. Wo es war, gab es keinen Raum und es gab keine Zeit und kein Wissen, um nichts.

Lange Zeit stand der Kleine vor dem Ding und betrachtete es. Obwohl er es nicht zu berühren wagte, fühlte er die grenzenlose Leere, die in dem Ding war, und um das Ding herum, und die Leere drang in sein Herz und machte es schwer mit ihrem Gewicht, schwerer als alles, das er sich je hatte vorstellen können.

"Wenn es nur nicht so leer wäre," dachte der Kleine, "wenn wenigstens irgendetwas in ihm wäre, und sei es noch so klein. Wenn es nur nicht so leer wäre und so einsam."

"Vielleicht gehört es jemandem. Vielleicht hat es einmal gelebt," dachte er etwas später, "vielleicht war es einmal voll Leben und hat jemandem gehört und war nicht so leer und einsam wie jetzt."

"Wenn man doch etwas hineintun könnte," dachte er weiter, nach einer langen Zeit, "aber es hat keine Öffnung und keinen Eingang und wenn ich etwas hätte, das ich hineintun könnte, so wüßte ich doch nicht, wie."

Seine Gedanken wanderten über das Ding, tasteten sich in jede noch so kleine Vertiefung, und auf der Brücke seiner Gedanken strömten das Grauen und die Leere und die Einsamkeit in seinen Kopf, in sein Herz  -  

er begann wieder zu weinen, ohne das Ding mit seinen Gedanken loslassen zu können. Plötzlich brach er hinein, war im Inneren des Dings und er SAH die Einsamkeit, sah die Leere. Er sah das Nichts.

Es gab keine Wege, es gab keine Wände, es gab keinen Horizont. Die Leere, reflektiert von der Seele des Kleinen, wurde zu namenloser Traurigkeit, die sich ausbreitete, so weit er sehen konnte und endlos darüber hinaus, und er sah weit mit seinen Gedanken und mit seinem Herzen.

Im Nichts war Bewegung und Nichtbewegung. Nichtwesen, das nichtwissende und nichtseiende, trieb und trieb nicht. Am äußersten Nichtrand seines Nichtseins streifte etwas heran, so leicht und leise, daß es kaum bis an sein Nichtzentrum drang  -  und doch war ETWAS, das sich im Nichts geformt hatte, für eine einzige Nichtsekunde, fast nicht wahrnehmbar und schon wieder verschwunden.

Als der Kleine zu sich kam, lag er auf der Erde, tränenverschmiert, benommen, allein. Er begann zu rennen, fort von dem Ding, das ihn tonlos zu rufen schien, er rannte und rannte. Am nächsten Morgen machte er sich auf, um in den Wald zu dem Ding zu gehen.

Lange sah er es an. Er kannte jetzt schon, was auf ihn zu und in ihn schlich, doch deshalb war es nicht weniger grauenhaft.

"Wenn ich gestern hineingekonnt habe," dachte er, "dann muß ich doch auch etwas hineinTUN können. Irgendetwas, und sei es noch so klein. Diese Leere muß aufhören, denn ich werde nicht mehr glücklich sein können, solange ich weiß, daß es eine solche Leere gibt."

Er trat auf das Ding zu, um es mit seinen Händen zu berühren. Die Traurigkeit machte ihn so müde, daß er sich kaum bewegen konnte. Aber stärker als die Müdigkeit und die Trauer war sein Wunsch, diese Leere zu beenden.

"Ich kann meine eigene Traurigkeit hineintun," dachte er noch, "und vielleicht gelingt es mir sogar, meinen Wunsch hineinzulegen, daß die Leere nicht mehr so groß ist, und die Einsamkeit, und das Grauen."

ETWAS formte sich im Nichts, trieb in der Nichtzeit und im Nichtraum.  Nichtwesen und ETWAS trieben aufeinander zu und in der Begegnung und im Gegenüber war Nichtwesen, in seiner Eigenschaft als das Gegenteil von ETWAS, ebenfalls zu ETWAS geworden.

Der Kleine spürte die Öffnung, spürte das Fließen. Auf der Brücke seiner Gedanken floß die Traurigkeit in das Ding, und mit ihr das Wünschen, das ein wenig von der Leere verdrängte. Das Nichts verlor sein innerstes Wesen, denn es war nicht mehr vollkommen, nun, da das Wünschen in es eingedrungen war.

"Ich kann nicht glauben, daß es tot ist," dachte der Kleine, "denn mit meinem Wünschen kann ich ihm auch etwas von meinem Leben geben. Ich will Leben in das Ding hineintun."

Und er dachte Leben, sah Leben, hielt es mit Gedankenfingern und legte es behutsam in das Ding. Er dachte Wachsen, und das Leben wuchs. Er dachte Erde, und das Leben in dem Ding begann sich zu erwärmen, zu dehnen und zu duften. Er dachte Feuer und eine Glutwelle fauchte durch das Ding, da dachte er Schnee und weiche kühle Flocken streichelten sein Gesicht. Er dachte Mutter, Mutter, und das warme Leben schmiegte sich um die Traurigkeit, hüllte sie ein, verdeckte sie ganz in seinem Inneren. Er dachte Lachen, und das warme Leben, das die Traurigkeit in seinem Inneren verschlossen hielt, erhellte sich und hüpfte in allen Farben des Regenbogens.

ETWAS hatte Zeit. ETWAS schuf Raum und füllte ihn aus. ETWAS war da, um Licht widerzuspiegeln, das im Nichts keine Fläche dafür gehabt hatte. ETWAS war etwas, das nicht mehr formlos trieb, sondern schwebte, im Raum, in der Zeit. ETWAS wurde. ETWAS wuchs. ETWAS war.

Der Kleine dachte Träume und ETWAS träumte. Er dachte Erinnerung und ETWAS erinnerte sich.

Er schlief neben dem Ding, ohne zu weinen, und ETWAS wußte um ihn und wärmte ihn.

Der Große fand ihn schlafend neben dem Ding und schüttelte ihn wach.

"Was tust du hier, Kleiner? Wo hast du dich gestern und heute herumgetrieben? Du bist ja ganz weiß im Gesicht!"

Dann folgte er dem Blick des Kleinen und sah das Ding an.

"Was hast du damit gemacht? Es sieht ganz anders aus!"

Der Kleine nahm die Hand des Großen und legte sie auf das Ding. Es war warm und pulsierte, es war weich und hart, groß und klein, es war braun und grün und blau und dunkelrosa und alle Farben, die es gibt, eine Aura von Sonnenlicht flirrte um es herum, es war Holz und Stein und Metall und Erde und Luft und Wasser, und es war umwachsen von etwas, das Gras und Moos und Pilze und Flechten und darüber hinaus alles war, das ein Mensch je berührt hatte.

Der Große zog seine Hand fort und betrachtete das Ding, als sähe er es zum erstenmal.

"Das lebt," sagte er, "das ist gar nicht tot. Was ist das? Was hat es mit dir gemacht? Laß uns abhauen!"

Der Kleine stand auf, klopfte sich Erde und Blätter aus den Kleidern, legte seine Hand in die des Großen und ging mit ihm. Nach ein paar Schritten wandte er sich um und schaute zurück.

"Sieh nur", sagte er, "es lächelt."